Es ist Freitag Abend. Petra und Freddie ziehen sich an. Sie wollen Kultur erleben. Angekommen: Freddie setzt den Biertrichter an und leert ihn direkt in Rekordzeit.
Festivals als neues Kulturgut?
Man könnte annehmen, Kultur finde nur im Opernhaus oder Museum statt – doch weit gefehlt: Längst pilgern Millionen Menschen jeden Sommer auf Wiesen und Campingplätze, um bei lauter Musik und Matsch ein Gemeinschaftserlebnis zu zelebrieren. Festivals gelten heute vielen als Kulturgut, und das nicht ohne Grund. In Deutschland kommen auf rund 130 staatlich finanzierte Orchester und Opernhäuser etwa 7.000 Festivals pro Jahr. Kulturwissenschaftlich lässt sich argumentieren, dass Festivals uralte Rituale der Gemeinschaftspflege fortführen: Menschen verkleiden sich, ziehen in die „Provinz“ und frönen mit etwas Alkohol ihrer Leidenschaft für überwältigende Klänge. Selbst die UNESCO zählt ausdrücklich „soziale Praktiken, Rituale und Feste“ zum schützenswerten immateriellen Kulturerbe. Aus gesellschaftlicher Sicht stiften Festivals demnach Identität und Gemeinschaftserlebnisse jenseits des Alltags – eine Art moderner Tribalismus mit Dosenbier und Band-T-Shirt.
Auch die Politik entdeckt zunehmend den kulturellen Wert dieser Freiluft-Feierkultur. So betonte Kulturstaatsministerin Claudia Roth jüngst die Bedeutung von Musikfestivals: Sie schafften „einzigartige Kultur- und Gemeinschaftserlebnisse“, brächten Menschen verschiedenster Hintergründe zusammen und leisteten einen „unersetzlichen Beitrag zur Vielfalt unseres Kulturlebens“. Mit anderen Worten: Was früher belächelt als „Spaßveranstaltung“ galt, wird heute als Beitrag zur kulturellen Vielfalt und Teilhabe anerkannt. Wenn Petra und Freddie mit Biertrichter und Basslautsprecher losziehen, dann erfüllen sie – ironisch gesagt – einen Bildungsauftrag in Sachen Popkultur. Schließlich war die Ekstase in der Kunst schon immer wichtig: Sogar eingefleischte Wagner-Fans kommen „tränenüberströmt und mit Gänsehaut“ aus Bayreuth und sagen, die Musik sei „wie eine Droge“. Der Rausch gehört eben zur Kultur, ob im Festspielhaus oder im Festivalmatsch.
Wer fördert das Feier-Feeling?
Angesichts dieser kulturellen Bedeutung überrascht es nicht, dass Festivals zunehmend öffentliche Förderung erhalten. Tatsächlich galten Rock-, Pop- und Jazz-Festivals lange als „Unterhaltung“ und mussten kommerziell überleben, während Opernhäuser staatliche Millionen bekamen. Doch diese Trennung von E- und U-Kultur verwischt sich. In Deutschland hat der Bund 2023 erstmals einen Festivalförderfonds aufgelegt, um Populärkultur gezielt zu unterstützen. Für die Festivalsaison 2024 stellt die Bundesregierung etwa 4 Millionen Euro bereit – einzelne Festivals können bis zu 50.000 € Förderung erhalten. Insgesamt wurden in der zweiten Förderrunde 127 Festivals aus allen 16 Bundesländern ausgewählt. Der Fokus liegt dabei auf Veranstaltungen, die besondere soziokulturelle Schwerpunkte setzen, z.B. Nachwuchsförderung, Diversität auf und hinter der Bühne, Barrierefreiheit oder Engagement für ökologische Nachhaltigkeit. Mit anderen Worten: Gefördert wird nicht nur das Feiern an sich, sondern der gesellschaftliche Mehrwert dahinter. So erhält etwa das Krawall Sommerfestival in Niedersachsen Unterstützung, weil es mit Fokus auf Diversität, Partizipation und „Safer Spaces“ für unterrepräsentierte Gruppen ein starkes Zeichen setzt – auch wenn der Name Krawall anderes vermuten lässt.
Festivalstimmung pur: Dank staatlicher Förderung können auch kleine Festivals jenseits der Metropolen einzigartige Kulturmomente schaffen.
Neben nationalen Förderprogrammen gibt es auch kommunale und europäische Initiativen. Viele Städte und Regionen bezuschussen lokale Festivals, um die kulturelle Teilhabe vor Ort zu stärken – frei nach dem Motto: Lieber ein lautes Open-Air mit glücklichen Bürgern als ein ruhiger Marktplatz. Auf EU-Ebene wurde beispielsweise mit Creative Europe die Initiative Keychange unterstützt, die über 190 Festivals in ganz Europa dazu bewegte, bis 2022 eine 50/50-Geschlechterquote in ihren Line-ups anzustreben. Solche Programme fördern Diversität und setzen internationale Maßstäbe: Kultur heißt eben nicht nur Beethoven und Goethe, sondern auch female fronted Rockbands, Inklusionsprojekte und klimaneutrale Bühnenshows.
Oper versus Open-Air: Ein Vergleich der Kulturen
Trotz aller Annäherung lohnt ein Blick auf die Unterschiede – und Gemeinsamkeiten – von Festival und Oper, also Hochkultur und Popkultur. Fakt ist: Die klassische Hochkultur erhält immer noch den Löwenanteil der Gelder. Rund zwei Drittel der öffentlichen Kulturmittel in Deutschland fließen in Opernhäuser, Theater, Museen und Co. Entsprechend üppig subventioniert sind etwa renommierte Festspiele wie Bayreuth oder Salzburg, während viele kleine Indie-Festivals ums Überleben kämpfen. Musiker Jonas Schubert – selbst Mitbegründer eines Festivals – hält diese Verteilung für unfair. Er fragt provokativ: „Welche Relevanz hat eine Oper in einer Stadt im Vergleich zu einer gesamten Festivallandschaft in Deutschland?“. Ein pointierter Vergleich: Ein Opernhaus erfreut einige Hundert betuchte Besucher, während zahlreiche Festivals Hunderttausende diverse Fans erreichen. Während für die Sanierung einer Oper (etwa der Kölner Oper) auch mal dreistellige Millionenbeträge fließen, teilen sich alle Festivals zusammen oft nur einstellige Millionenbeträge an Unterstützung. Die Politik verteidigt das mit dem Hinweis, Opernhäuser müssten ganzjährig Ensemble und Gebäude unterhalten – ein kostspieliges Unterfangen. Kulturjournalist Vladimir Balzer nennt Oper gar „Teil der kulturellen Tradition in diesem Land“, also identitätsstiftend für die Nation.
Doch auch Festivals haben Tradition: Das Wacken Open Air lockt seit 1990 Metal-Fans aus aller Welt ins schleswig-holsteinische Dorf Wacken – eine Pilgerreise, die in Fankreisen ähnliche Ehrfurcht genießt wie Bayreuth für Wagnerianer. Die Parallelen sind verblüffend: „Die Fans von Wagner-Opern und von Heavy Metal sind sich eigentlich sehr ähnlich. Beide lieben es, sich an einem Sommerwochenende in Schale zu werfen, in die Provinz zu pilgern und dort mit ein wenig Alkohol ihrer Leidenschaft für eine Musik zu frönen“, wie die Süddeutsche Zeitung augenzwinkernd bemerkte. Der Unterschied liegt im Dresscode und der Geräuschkulisse: Hier Fliege und Arie, dort Kutte und E-Gitarre. Gesellschaftlich genießen Opern nach wie vor höheres Prestige – doch das ändert sich langsam. In Berlin wurden 2021 sogar Techno-Clubs offiziell zu Kulturstätten erklärt, gleichgestellt mit Theatern und Opern. Was für ein Paradigmenwechsel: Der Bundestag befand, dass ein DJ-Nachtclub mit kulturellem Programm nicht länger als bloße Vergnügungsstätte gilt, sondern ebenso schützenswert ist wie eine Opernhaus-Loge. Ähnlich dürfen Festivals darauf hoffen, nicht mehr nur als lärmige Spaßevents, sondern als wichtige Kulturträger wahrgenommen zu werden.
Wer feiert hier eigentlich – und wer kassiert?
So gut die Idee öffentlicher Festivalförderung klingt: Es stellt sich die Frage, wer am Ende tatsächlich profitiert. Denn während kleine, unabhängige Festivals oft mit ehrenamtlicher Power und Campingtoiletten durch den Sommer humpeln, kauft sich der britische Festivalgigant Superstruct Entertainment munter durch die europäische Festivallandschaft – darunter das Wacken, Parookaville, San Hejmo und viele mehr. Mit Kapital aus dem Private-Equity-Fonds Providence ausgestattet, ist Superstruct auf bestem Weg, zum Amazon der Festivalbranche zu werden – nur mit mehr Konfetti und schlechterem Handyempfang.
Doch was passiert, wenn solche Konzerne – clever in der Förderlogik – ebenfalls staatliche Zuschüsse beantragen? Dürfen steuerfinanzierte Gelder an Holdingstrukturen mit Sitz in Luxemburg oder auf den Cayman Islands fließen, nur weil das Line-up divers ist und die Bühne aus recyceltem Bambus besteht? Klar: Auch große Festivals haben ökologische und gesellschaftliche Verantwortung, und Diversität auf den Bühnen ist dringend nötig. Aber Fördergelder sollten der kulturellen Vielfalt und lokalen Szenen dienen – nicht den Gewinnmargen internationaler Investoren! (Meinung)
Hoch die Dosen – für die Kultur!
Ironisch gesprochen trinken Petra und Freddie mit jedem Festival-Bier auf das Kulturgut Festival an. Festivals tragen zur Kultur bei – nicht trotz, sondern gerade wegen ihres ungezwungenen Charakters. Sie schaffen Räume, in denen Jugendkultur, Musik, Kunst und Gemeinschaft verschmelzen. Sie sind Zugpferde für kulturelle Teilhabe, bieten Bühnen für neue Talente und spiegeln die Themen der Zeit, von Diversität bis Nachhaltigkeit. Und ja, sie ermöglichen intensive Kunsterlebnisse – seien es Tränen im Opernparkett oder Schlamm zwischen den Zehen beim Headbangen. Die kulturelle Wertschätzung für Festivals steigt zurecht: Staatliche Fördergelder fließen, und gesellschaftlich wird anerkannt, dass ein Wochenende im Moshpit der Seele bisweilen genauso viel geben kann wie ein Abend in der Oper. In diesem Sinne: Prost auf die Kultur – egal ob mit Champagner oder Dosenbier. Kultur zum Anfassen (und Anhören) war selten so lebendig wie im Festivalgetümmel!